ELIA
Ihre Blicke trafen sich erneut und Elia schluckte, ihr Atem stockte. "Du hast mir nie erzählt ..."
"Ich wusste nicht wie", sagte er einfach. "Ich hatte die Unterschiede zwischen Menschen und Anima immer noch nicht wirklich verstanden. Ich dachte, du seist stur und wolltest nicht glauben, dass ich dir helfen wollte. Es hat mich verletzt, dass du dachtest, ich wolle dir Schaden zufügen. Mein Stolz war gekränkt..." Er blickte dann weg, auf seine Hände hinab. "Und dann war da noch die Nacht, in der sich deine Eltern wegen mir gestritten haben."
"Ich habe es versucht", keuchte sie. "Ich habe ihnen zu sagen versucht – ich wusste, du würdest mir nicht wieder wehtun. Und du hast mir gefehlt."
Er nickte, aber seine Augen, immer noch erleuchtet von diesem seltsamen Glühen, trafen kurz die ihren, bevor er sie wieder senkte. "Ich habe sie nicht verstanden. Ich hatte deine Familie zuvor nie so schreien hören. Ich dachte, du bist in Gefahr ..."
Sie schlug die Hände vor den Mund, die besagte Nacht plötzlich in einem ganz anderen Licht sehend.
"Als ich an jenem Abend an dein Fenster kam, wollte ich nur sicherstellen, dass es dir gut geht. Dass sie dir keinen Schaden zufügen. Ich konnte hören, wie du weintest und ich machte mir Sorgen."
"Ich wusste, du wolltest nur reden. Aber als mein Vater dich an meinem Fenster gefunden hat ..."
"Er nannte mich einen Perversen. Ich wusste jahrelang nicht, was das bedeutet. Als ich es herausfand, wurde mir übel."
"Ich habe immer gewusst, dass er damit falsch lag, Gareth. Das habe ich."
Er nickte, seine Augen leuchteten noch heller.
Elia konnte nicht glauben, dass er es wirklich war. Konnte nicht glauben, dass er wegen ihr zurückgekommen war. Sie hatte sich immer gefragt, was mit ihm geschehen war - hatte immer gehofft, ihn einmal als Erwachsenen sehen zu können. Sie hatte gewusst, dass er stark sein würde. Sie wusste, dass er nicht das war, wofür ihr Vater ihn gehalten hatte. Aber sie hatte sich auch gefragt ... er war so anders als die anderen Kinder. Das war ihr erst recht aufgefallen, nachdem er fort war und sie andere Freunde gefunden hatte. Manchmal... manchmal hatte sie sich gefragt, was mit ihm nicht stimmte.
Der Gedanke daran ließ ihr übel werden.
Gerade als sie von dem Bett aufspringen und sich in seine Arme werfen wollte, um ihn anzuflehen, ihre Fragen zu verzeihen, blinzelte sie. Denn … er hatte sein Versprechen gebrochen. Es war schwer für ihn gewesen, das konnte sie jetzt sehen. Es war verzeihbar, nahm sie an. Aber … "Du hast mir nicht einmal eine Nachricht hinterlassen", sagte sie, wobei die Angst ihres achtjährigen Ichs in ihrer Stimme mitschwang. "Du bist einfach verschwunden. Ich dachte, du seist wütend und ..."
"Nein, Elia, nein", besänftigte er sie, ging zurück zu ihr und kniete erneut vor ihr nieder – und jetzt wusste sie. Jetzt konnte sie es sehen. Genau das hatte er auch damals immer getan. Er war immer so viel größer gewesen als sie. Wann immer sie zusammen an etwas arbeiteten, hatte er sich auf ihre Größe herabbegeben, sich kleiner gemacht. Das hatte ihre Erinnerung vom Vortag wachgerüttelt.Sie hatte es gespürt, deshalb war sie sich so sicher gewesen, ihm vertrauen zu können. Irgendetwas in ihrem Inneren hatte es gewusst, obwohl sie ihn nicht wiedererkannt hatte. Er war jetzt so viel größer, so stattlich und... so voller Leben. Wenn sie ihn nun ansah, schien es fast unmöglich, diesen imposanten Mann mit jenem Kind in Einklang zu bringen.
Und dennoch ergab es auf merkwürdige Weise Sinn.
Er legte seine Hand auf ihr Knie und sah zu ihr hoch. "Die Umstände waren unglücklich", sagte er leise, mit flehenden Augen. "Kurz nach jener Nacht, als dein Vater mich an deinem Fenster überraschte, riefen meine Eltern mich zurück nach Anima. Wir wussten, dass dieser Moment bald kommen würde – einer der Gründe, weshalb ich so entschlossen war, jede mögliche Sekunde mit dir zu verbringen. Ich war noch ein Kind und wurde darauf vorbereitet, König zu werden. Ich konnte nicht ahnen... ich dachte, mein Vater hätte die Macht über alle Welten. Ich hatte ihm sogar einen Brief geschrieben und ihn gebeten, deine Eltern anzuweisen, dich mit uns nach Anima gehen zu lassen."
Sie schnappte nach Luft und schlug sich die Hände vor den Mund, halb entzückt und halb traurig über den naiven Glauben des Kindes. "Von diesem Ort wusste ich nichts."
"Ich wollte es dir sagen. Ich hatte sogar geübt, was ich dir schreiben wollte. Doch meine Wächter entdeckten es. Dann gab es den Streit mit deinem Vater und schließlich verkündete mein Vater, die Sicherheit sei wiederhergestellt. Ohne Vorwarnung entschieden sie, mich fortzubringen, damit ich unsere Geheimnisse nicht mit dir teilen würde. Ich... war sehr aufgebracht."
Ein Schauer durchfuhr ihn und seine Finger pressten sich fester in ihr Knie.
"Ich glaube, ich wusste es sogar damals schon", sagte er, den Blick auf den Ort gerichtet, an dem seine Hand sie berührte. "Ich war zu jung, um zu begreifen, was das bedeutet, was daraus werden würde. Doch irgendetwas in mir wusste, dass du die Richtige für mich bist", hauchte er ehrfürchtig. Dann schaute er auf, eine Frage in seinen Augen.
Die Augen von Elia weiteten sich, Gefühle wirbelten in ihr und sie konnte sie kaum unter Kontrolle halten.
Sie hatte dasselbe gespürt, wenn sie ehrlich war. Sie hatte niemals jemanden getroffen, bei dem sie sich so geborgen oder geschützt fühlte wie bei ihrem kleinen Freund Gareth. Sie war so wütend gewesen, als er verschwand. Sie hatte sich verraten gefühlt. Und das hatte ihre Erinnerungen gefärbt. Sie hatte sich selbst eingeredet, er sei ein seltsames Kind gewesen und es sei besser so, dass er weg war.
Ihr Vater hatte sie immer wieder an jene Vorfälle erinnert, wann immer er ihr Urteilsvermögen infrage stellte – sein Beweis dafür, dass sie zu leichtgläubig war. Zu naiv, um zu verstehen, was die Welt ihr antun konnte. Und seine Hartnäckigkeit hatte sie zweifeln lassen.
Aber andererseits... andererseits...
"Du hättest es mir sagen sollen. Du hättest es mir gestern Abend erzählen müssen, Gareth! Verdammt, du hättest es mir sagen sollen, bevor sie mich überhaupt in diese Lichtung gebracht haben!"
Reths Blick bohrte sich in ihre Augen. "Ich habe es nicht gewusst, Elia. Ich schwöre. Ich hatte keine Ahnung, dass du gestern Nacht dort sein würdest, bis ich kam und dich sah... dich roch...", sagte er. Sie blinzelte. Er musste lügen. Oder etwa nicht? Doch sein Blick blieb fest, seine Finger warm auf ihrem Oberschenkel. "Bitte, Elia", flüsterte er.
Sie wäre fast darauf eingegangen, hätte sich fast vorgebeugt, um sein schönes Gesicht zu umfassen – dann erinnerte sie sich. "Aber... ich habe dich gefragt. Ich habe dich direkt beim Frühstück gefragt. Ich fragte, ob wir uns schon einmal begegnet sind, weil ich ständig dieses Gefühl hatte... wie ein Déjà-vu. Als ob ich schon einmal mit dir zusammen gewesen wäre. Ich habe dich gefragt, Gareth!"
Er senkte seinen Kopf auf ihr Knie, doch sie stieß ihn von sich, stieg schnell vom Bett und achtete darauf, das Fell eng um sich geschlungen zu halten.