Lina war nach ihrem Essen satt und Kaden führte sie nun in einen anderen Teil des Hauses. In ihren Morgenskleidern folgte sie ihm wie ein verirrtes Haustier seinem Besitzer, zumal er sehr schnell ging.
Kaden hatte nicht vor, das Tempo zu drosseln. Müde wie Lina war, setzte er seinen straffen Schritt fort.
Endlich platzte es aus Lina heraus: "Ich bin nicht so groß wie du. Musst du so schnell gehen?" fragte sie.
Kaden hob eine Augenbraue, blickte über die Schulter zu ihren Beinen und erwiderte: "Ich kann nichts dafür, dass du klein bist", und beschleunigte noch.
Lina hatte Mühe, Schritt zu halten. Letztendlich ergriff sie sein Handgelenk und ließ sich von ihm durch den Flur ziehen, in der Hoffnung, er würde innehalten.
Kaden lachte nur spöttisch, packte sie bei der Hand und zog sie weiter. Er hatte keine Zeit zu verlieren, zumal er Wind von den Machenschaften des verzweifelten Erben bekommen hatte.
"Wohin gehen wir?" fragte Lina.
Sie bemerkte, wie groß Kadens Hände waren. Sie passten perfekt um ihre eigenen, sein Griff war warm und kitzelte ihr Herz. Sie tadelte sich dafür, wie schnell sie für ihn Herzklopfen bekam und wie schnell ihr Herz zu vergessen schien, was er ihr einst angetan hatte.
"Mein Büro", sagte Kaden, als sie abrupt stehen blieben.
Kaden öffnete die Tür und bedeutete ihr, zuerst einzutreten.
"Nach dir", sagte Lina und signalisierte ihm, voranzugehen.
Kaden verengte die Augen. Sie liebte es einfach, ihn zu provozieren. Er betrat zusammen mit ihr den Raum und schloss die Tür hinter ihnen. Er war gerade dabei, sie weiter durch den Raum zu ziehen, doch sie entwand sich seiner Hand. Sofort vermisste er die Kühle ihrer Fingerspitzen.
"Das habe ich schon lange nicht mehr gesehen", merkte Lina an.
Lina betrachtete das Gemälde an seiner Wand, das die Burg von Ritan zeigte. Jetzt war es nur noch eine Sehenswürdigkeit. Damals war es das größte und prächtigste Schloss, was die Welt jemals gesehen hatte.
Jetzt, wo Lina darüber nachdachte, konnte das neue Anwesen der DeHavens durchaus damit verglichen werden. Sie hatte gehört, dass die Villa der DeHavens einem Schloss über das Meer, im großen Königreich Wraith, ähnelte. Nachdem sie durch die weitläufigen und kunstvoll dekorierten Flure gewandert war, verstand sie.
Das Haus war riesig, die Decken ragten in den Himmel, und die Fenster – ebenso gewaltig – boten meist einen Blick auf den Garten.
"Ich besitze das Schloss immer noch. Es ist kein Staatseigentum", entgegnete Kaden, während er sich in seinen Ledersessel setzte.
Lina blinzelte. Sie hatte vergessen, dass er so viel Geld besaß, dass seine Nachkommen keinen Tag in ihrem Leben würden arbeiten müssen. Dann aber brannte Eifersucht in ihr bei dem Gedanken, dass er eine andere Frau haben könnte. Dies führte sie zu ihrer nächsten Frage.
"War die Goldene Rose schwanger mit deinem Kind?" fragte Lina und wandte sich ihm zu.
Kaden stockte, hob den Kopf von dem Vertrag, den er gerade studierte. Sie sah ihn mit einem ehrlichen Blick an, wie ein offenes Buch.
"Was lässt dich das denken?"
"Letztlich musstest du die Goldene Rose entjungfern, um Unsterblichkeit zu erlangen, oder nicht?" fragte Lina und erinnerte sich an das Märchen von der Goldenen Rose.
Das Märchen sprach von einer geheimnisvollen Frau, die von Königen, Prinzen und Anführern begehrt wurde. Es hieß, die Goldene Rose sei eine Frau mit goldenem Haar und smaragdgrünen Augen.
Wer die Goldene Rose umarmte, dem wuchs große Kraft zu, wer ihr Blut trank, wurde zu dem Stärksten auf der Welt, und wer sie entjungferte, erlangte Unsterblichkeit. Einige behaupteten sogar, ihre gemahlenen Knochen könnten das unfruchtbarste Land fruchtbar machen.
"Du glaubst, ich würde zulassen, dass eine andere Frau als du, mein Kind zur Welt bringt?" fragte Kaden, als wäre es für ihn selbstverständlich. Auch wenn ihre Worte so schonungslos waren, war er kein bisschen beleidigt.Kaden war die Ruhe in Person. Er glich den Gezeiten des Ozeans, kurz bevor eine Welle heranrollt - keine Bewegung war überflüssig.
"Na dann, wer ist der Vater des dritten Königs von Ritan?" fragte Lina und fixierte ihn.
Eine entscheidende Information, die in den Geschichtsbüchern fehlte und über die kein Historiker zu reden wagte. Man munkelte, es sei ein uneheliches Kind gewesen, doch Lina ahnte, dass mehr dahinter steckte.
"Benutz doch mal deinen hübschen Kopf, um das herauszufinden, es sei denn, dein Intellekt ist nur Fassade?" gab Kaden zurück, als er sich wieder dem Vertrag zuwandte.
"Hör auf, herumzuzicken, und setz dich," sagte Kaden, dabei wies er auf den braunen Ledersessel vor seinem Schreibtisch.
Lina trat an den Sessel heran, nahm Platz und schlug die Beine übereinander. "Geht es hierbei um Sebastian?"
"Welchen meinst du?" sinnierte Kaden.
"Ist Sebastian etwa auch unsterblich?" erkundigte sich Lina.
Kaden legte seine Hände auf den Schreibtisch und faltete sie ineinander.
"Nein", stellte Kaden klar. "Es gibt viele Generationen von Sebastians."
Linas Stirn legte sich in Falten. "Dann ist der Sebastian aus unserem Leben ..."
"Er ist der Nachfahre meines Dieners", klärte Kaden auf. "Er ist Sebastian Junior... der wievielte? Der Neunte? Zehnte?"
Lina nickte. Sie hatte nicht angenommen, dass Sebastian unsterblich sei, doch verwirrte es sie, warum er immer wieder in ihren Träumen erschien.
"Die Gene müssen dominant sein", murmelte sie. "Er sieht noch genauso aus, wie ich mich an ihn erinnere."
Kaden gab nur ein Brummen als Antwort. "Noch weitere Fragen?"
"Du bist jetzt der junge Meister des Hauses DeHaven und der Erstanspruchsberechtigte auf den Vorsitz des DeHaven-Konzerns. Wie ist das zustande gekommen?" fragte Lina scharf. "Weißt du, wenn du nicht alterst, werden die Leute Verdacht schöpfen."
Kaden sah sie an. Sie wusste also nicht um den wichtigsten Teil der Entweihten Goldenen Rose.
"Hast du vergessen, wem das Haus DeHaven diente?" dachte Kaden nach, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte.
Lina hielt inne. "Es waren Herzöge ..."
"Und wem dienen Herzöge?"
"Königen."
"Schlaues Mädchen," sinnierte Kaden. "Beantwortet das deine Frage?"
Lina ignorierte das.
"Und das da?" fragte Lina und deutete auf den Vertrag auf seinem Schreibtisch.
Kaden lächelte spitzbübisch angesichts ihrer Weigerung einzugestehen, dass er ihr half. Er schob den Vertrag mit zwei ausgestreckten Fingern zu ihr hinüber.
"Ein Ehevertrag, den du unterzeichnen sollst," erläuterte Kaden und legte einen Stift vor sie hin. "Genau wie du es dir gewünscht hast."