Kaden begab sich nur wegen Lina auf den Parkplatz. Als er dort ankam und ein brandneues Auto vorfand, wurde sein Gesicht ausdruckslos. Er starrte auf das beeindruckende schwarze Fahrzeug einer Luxusmarke.
Es war das neueste Modell mit glänzenden Reifen und einer eleganten, matten Lackierung, ikonischen roten Lichtern und einer Pferdestärke, die für gewöhnliche Straßen zu schnell war. Eines der begehrtesten Automobile, das man nicht mal mit Geld oder Beziehungen kaufen konnte.
"Wow...", hauchte Sebastian, während seine Augen weit aufgingen beim Anblick dieses unermesslichen Geschenks.
Doch dann fiel Sebastians Blick auf seinen Chef und er zitterte.
Auf dem Parkplatz war es verdammt kalt, trotz des beginnenden Frühlings. Bildete sich da etwa ein Eiszapfen an der Decke? Sebastian schlang seine zitternden Arme um sich, sein Gesicht erblasste angesichts des mörderischen Ausdrucks auf dem Gesicht seines Chefs.
"Wer hat das geschickt?" fragte Kaden.
"Es ... es scheint Lina zu sein", setzte Sebastian an und ließ ein kleines Quietschen hören, als der Chef mit den Zähnen knirschte.
Kaden presste die Kiefer zusammen und starrte das Geschenk an. "Sie will also einen Geschenkkrieg, wie ihn der Gründer von Feili und sein Partner erfunden haben."
"A-aber ein Geschenkkrieg hat seit Generationen nicht stattgefunden und nur sie konnten ihn führen, wegen ihres überwältigenden Reichtums, Chef", flüsterte Sebastian. "Wie kommt Lina an so viel Geld, wenn sie gar nicht als Erbin des Yang-Konzerns gilt? Was bedeutet das?"
Kaden verengte die Augen auf das Auto.
"Das bedeutet, dass deine Recherchen unzureichend und fehlerhaft waren", fuhr Kaden an und wandte sich mit einem finsteren Blick von dem Geschenk ab.
Sebastians Schultern sackten enttäuscht zusammen. Er machte ein trotziges Gesicht und begann eifrig auf seinem Tablet zu tippen. Er hatte sich entschlossen, weitere Recherchen über Lina Yang anzustellen.
Es gab tatsächlich nicht viele Informationen über Lina Yang. Sie war eben keine der bedeutsamen Yangs. Wenn die Leute von der Familie Yang hörten, dachten sie an ihren Onkel, den CEO von Yang Enterprise, oder an ihren Großonkel, den zweiten Bruder der kaiserlichen Familie im fernen Osten Ritans.
"Sehr gut, Chef", sagte Sebastian schließlich.
Lina Yang war ein in Vergessenheit geratenes Mitglied des Yang-Clans, einem der mächtigsten im ganzen Osten. Auch wenn sie eine Yang war und somit noch immer zu einem der bedeutendsten Mitglieder der Gesellschaft zählte, musste es mehr geben, als auf den ersten Blick zu erkennen war.
- - -
"Ich bin überrascht", sagte eine Stimme am Telefon, während Lina aus dem Fenster starrte.
Ihr Zimmer lag zum Blumengarten hin und jeden Morgen wehte der zarte Duft herein. Es war der einzige Ort, der ihr geistiges Gleichgewicht in einem Haus, das von ihrer verrückten Mutter beherrscht wurde, aufrechterhielt.
"Du hast mich selten um einen Gefallen gebeten, aber du kennst mein Motto", fuhr die Stimme fort.
"Auge um Auge", sagte Lina, bevor er fortfahren konnte. "Bis die Welt erblindet. Das hast du vor einigen Generationen von deinem Vorgänger übernommen."
Die Stimme lachte. "Yang Feng ist unser Urgroßvater. Selbstverständlich verwende ich das Motto, nach dem er gelebt hat."
Lina ließ ein leises Seufzen hören. "Aber natürlich."
"Beabsichtigst du, einen Geschenkkrieg zu beginnen?" fragte der Mann.
Lina hielt inne. Sie beobachtete, wie die Sonne in der Ferne schnell unterging und den Himmel in ein sanftes Rosa tauchte.
"Ich habe diesen Begriff schon lange nicht mehr gehört", lachte Lina. "Aber ich bin nicht so vermögend wie unsere Urgroßschwägerin, also nein. Ich beabsichtige nicht, mein Geld so zu vergeuden."
"Es ist keine Verschwendung, wenn die besagte Schwägerin es einst geschafft hat, den Zhao und den Yang-Clan zu vereinen und uns zu einer der mächtigsten Familien des Ostens zu machen. Wenn nur du nicht in Ritan geblieben wärst, hättest du..."
"All diese Macht und keine davon ist mir bestimmt", murmelte Lina.
"Nun, mit deiner besonderen Fähigkeit hättest du leicht..."
"Besonders würde ich es nicht nennen, wenn ich nicht damit geboren wurde", entgegnete Lina und rümpfte die Nase bei den schrecklichen Erinnerungen an ihre Kindheit.Selbst jetzt konnte Lina den Menschen, die sie dorthin geschickt hatten, nicht vergeben, obwohl sie nicht wusste, wer es war.
"Ob du dafür geboren bist oder nicht, du weißt, dass ich dich wohlwollend betrachte. Aber ein Gefallen ist ein Gefallen, also hoffe ich, dass du dir diesen hier gut merkst", erwiderte die Stimme.
Ihr Onkel war schon immer ein schlauer Fuchs gewesen. Lina traute sich nicht zu beschweren, besonders nicht, da er es geschafft hatte, das Auto in weniger als einem Tag zu schicken, und dieses einwandfrei geliefert wurde.
"Natürlich, Onkel", murmelte Lina. "Du weißt, dass ich meine Gefallen nie vergesse. Die, die ich schulde, und die, die mir geschuldet werden."
Ihr Onkel sagte nichts weiter, aber sie konnte sich sein listiges Lächeln vorstellen, als ob er die Geheimnisse aller kannte, bevor diese selbst davon wussten.
"Gut."
Ohne ein weiteres Wort legte ihr Onkel auf. Lina war nicht überrascht, da er dafür bekannt war, keine sinnlosen Gespräche zu führen. Irgendetwas über die Sinnlosigkeit von Begrüßungen und Verabschiedungen, wenn man jemanden gut kannte.
Mit einem kleinen Seufzer kehrte Lina zurück an ihren Schreibtisch, wo sie an ihren Ferienaufgaben arbeitete. Doch je länger sie sich mit Geschichte beschäftigte, desto stärker zog es sie zu ihrem Skizzenbuch hin.
Letztendlich ließ sie sich vom Skizzenbuch leiten, wo ihre Entwürfe aufbewahrt wurden, für immer.
Kaum hatte sie den Bleistift in die Hand genommen, war sie wie verzaubert und ihre Hand bewegte sich von selbst, bis sie schließlich begann, ein passendes Kleidungsstück zu zeichnen.
Versunken in die Kunst des Zeichnens bemerkte sie das Klopfen an ihrer Tür nicht, bis jemand sich von hinten an sie heranschlich.
"Boo!" rief Milo und entlockte Lina einen lauten Schrei. Dann schrie er auch, als er beinahe von einem Bleistift ins Auge gestochen wurde. Bald war das ganze Zimmer von ihrem Geschrei erfüllt.
"Was zum Teufel!" schrie Lina ihn an.
"Das sollte ich fragen! Du hast mir fast die Augen ausgestochen!" regte sich Milo auf. "Hast du kein Erbarmen mit deinem jüngeren Bruder?!"
Lina spottete. "Wer hat schon Erbarmen mit einem Eindringling in seinem Zimmer? Du?"
Milo schaute finster. "Weißt du, die meisten älteren Schwestern sind liebevoll. Sie würden den Kopf ihres jüngeren Bruders in den Arm nehmen und fragen, ob alles in Ordnung ist."
Lina lachte. "Was glaubst du, in was für einer Geschichte sind wir hier? In keiner Bruder-Schwester-Beziehung gibt es so etwas. Wenn es kein Neckereien gibt, sind wir dann überhaupt Geschwister?"
Milo hielt inne und dachte über ihre Worte nach.
"Stimmt", räumte Milo ein. "Es wäre seltsam, wenn wir plötzlich nett zueinander wären, statt uns auf dem Boden zu kampfen, bis einer von uns aufgibt."
Lina schnaubte bei seinen Worten und widmete sich wieder ihrer Zeichnung. Sie kauerte sich auf ihrem Stuhl zusammen und ignorierte seine anhaltende Anwesenheit hinter sich, da er der Einzige war, dem sie ihre Kunst zeigte.
"Was suchst du eigentlich hier?" fragte Lina ihn, während sie begann, den fließenden Teil des vom Osten inspirierten Kleides zu zeichnen.
"Ich habe zufällig ein Gespräch mitangehört, das du vielleicht nicht hören möchtest", sagte Milo langsam und spähte neugierig über ihre Schulter.
Lina hatte ein Talent fürs Zeichnen, aber das war nicht ihre wahre Stärke, das wussten beide. Dennoch lenkte sie sich ständig mit Kunst ab. Er fragte sich, warum.
"Wenn es ein Gespräch ist, das ich nicht hören möchte, warum erzählst du es mir dann?" überlegte Lina und nahm ihre Buntstifte, um mit dem Hellblau des luftigen, mehrlagigen Kleides zu beginnen.
"Weil ich dachte, du möchtest vielleicht davon erfahren", antwortete Milo.
"Tja, das möchte ich nicht." Lina runzelte die Stirn, als sie das Kleid betrachtete. Sie griff nach einer anderen Farbe und begann zu experimentieren.
"Also gut", sang Milo, lächelnd vor sich hin.
Vielleicht könnte dies eine kleine Revanche für den beinahe Augenstich und die damit verbundene Gefahr für sein hübsches Gesicht sein. Wenn er seine einzige Trumpfkarte verlieren würde, dann sähe es schlecht für ihn aus!
"Entscheide selbst", grinste Milo und verließ den Raum, wohlwissend, dass Lina bald die Quittung für ihr Desinteresse bekommen würde. Er hatte versucht, sie zu warnen, doch sie hatte einfach nicht zuhören wollen.
Ihr Schaden, nicht seiner.