Als Su Xiaofei das nächste Mal die Augen öffnete, konnte sie sich weder daran erinnern, wo sie war, noch wie viel Zeit seit dem Moment vergangen war, in dem sie das Bewusstsein verloren hatte. Sollte dies eine weitere Erinnerung sein, die ihr ihre Verluste vor Augen hielt, schien es, als wollte jemand sie permanent leiden sehen.
Beim Umsehen bemerkte sie, dass man einen Tropf an ihren rechten Arm angeschlossen und ihre Kleider gegen ein dünnes, weißes Krankenhaushemd getauscht hatte, was sie ziemlich ärgerlich fand. Das offene Fenster rechts von ihr gab den Blick auf eine Weide frei, deren Äste sich so bogen, als würde der Baum eine Verbeugung vor dem kleinen See daneben machen.
Nun erinnerte sich Su Xiaofei: Dies geschah drei Tage nach dem Überfall auf Xi Qian. Sie und Xi Qian waren erst nach dem Vorfall von ihren Leibwächtern aufgefunden worden, da sie während des Überfalls das Bewusstsein verloren hatte. Der Alkohol in ihrem Magen wurde ausgepumpt, da sie stark betrunken war, was ihre Adoptivmutter und Xi Qian so sehr in Furcht und Schrecken versetzte, dass sie glaubten, Su Xiaofei würde es vielleicht nicht schaffen. Doch sie überlebte und erwachte, nur um dem taxierenden Blick Mo Yuchens zu begegnen.
Der Gedanke daran ließ Su Xiaofei erstarren, und sie warf einen Blick auf die Uhr in ihrem Krankenzimmer. Sie war eine Stunde früher aufgewacht als erwartet und hatte somit genügend Zeit, ihre Gedanken zu ordnen, bevor Mo Yuchen eintreffen würde.
War dies nur ein weiterer Traum? fragte sie sich. Nein, ihre Umgebung erschien zu real für einen Traum. Sie spürte den Schmerz, als sie versuchte, den Tropf aus ihrer Hand zu ziehen, und die leichte Brise vom offenen Fenster auf ihrem Gesicht. Ihr Mobiltelefon lag auf dem Nachttisch, und als sie einen Blick darauf warf, um die aktuelle Zeit und das Datum zu prüfen, bestätigte es ihren Verdacht.
Sie war tatsächlich ins Leben und in die Vergangenheit zurückgekehrt!
Mit zittrigen Schritten ging Su Xiaofei ins angeschlossene Badezimmer und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Der Anblick ihres jugendlichen Ichs ließ sie zittern. Obwohl sie ein einfaches Krankenhaushemd trug, konnte es ihre atemberaubende Schönheit nicht verdecken. Die leichte Strenge ihres älteren Gesichts war verschwunden; nur das jugendliche Antlitz, das sie einst besessen hatte, spiegelte sich vor ihr.
Ihre Augen waren klar und strahlten, im Gegensatz zu Ye Mingyu, deren Schönheit für ihre Unschuld und natürliches Aussehen bekannt war, eine listige Schärfe aus. Mit purpurroten Lippen, weißen Zähnen und lockerem, welligem Haar, das ihren schmalen Rücken herunterfiel, verströmte Su Xiaofei einen lässigen Charme, während sie ihr Spiegelbild betrachtete.
Ihr achtzehnjähriges Selbst wirkte so arrogant, selbstgerecht und rebellisch. Sie konnte kaum fassen, was sie da sah – nie hätte sie gedacht, dass Geschichten über Wiedergeburt und Zeitreise, wie sie sie aus Filmen und Büchern kannte, ihr selbst widerfahren würden.
Nach ihrem Tod hatte sie Jahre damit verbracht, im Anwesen ihrer Mutter herumzuirren und zu beobachten, wie das Leben von Lu Qingfeng von schlecht zu schlechter ging. Aber nun, da sie in die Gestalt ihres achtzehnjährigen Ichs zurückversetzt worden war, erfüllte der Gedanke, ihr eigenes Leben retten und Lu Qingfengs elendes Schicksal verändern zu können, ihr Herz mit unermesslicher Freude.Sie ging zurück ins Bett und checkte die Nachrichten auf ihrem Handy. Bei nur noch fünf Prozent Akkuladung war Su Xiaofei klar, dass sie nicht alles würde durchsehen können.
Was sollte sie tun? Wenn sie wirklich in die Vergangenheit zurückversetzt worden war, könnte sie dann möglicherweise ihr Schicksal ändern, wenn sie ihre Karten richtig ausspielte?
Erinnerungen an ihren Groll gegen ihren Vater und Ehemann fluteten Su Xiaofeis Geist. Sie hatte ihren gefühllosen Vater gehasst, weil er seine andere Tochter mit nach Hause gebracht hatte, was ihr Leben zerstörte und ihre Adoptivmutter in den Tod trieb. Su Xiaofei hatte sich bemüht, Ye Xing und Ye Mingyu das Leben zur Hölle zu machen, aber wer hätte gedacht, dass sie am Ende gegen dieses hinterlistige Mutter-Tochter-Gespann unterliegen würde?
Auch die Erinnerungen an das Leben von Lu Qingfeng nach ihrem Tod überkamen sie. Sie hätte nie erwartet, dass er leben würde wie ein Mönch, sich das Glück und die Zukunft einer eigenen Familie verwehrend. Unvergesslich war für sie, dass Lu Qingfeng noch an seinem letzten Tag ihr Foto fest umklammerte und im Schlaf ihren Namen rief.
"Was für ein törichter Mann. Du hast alles, aber dir selbst verweigerst du jede Freude." Dachte sie. Doch da fielen ihr Lu Qingfengs Worte aus der Vergangenheit ein.
"Wozu ist es gut, alles zu haben, wenn du nicht an meiner Seite bist?" hatte er gemurmelt, während im Hintergrund ihr Lieblingslied lief.
Nie hätte Su Xiaofei gedacht, dass er sie so gut kannte, dass Lu Qingfeng ihre Vorlieben bei Essen, Kleidung und Musik im Blick hatte. Wie konnte sie seine Gefühle ständig übersehen haben?
Lag es daran, dass sie ihn immer wie einen kleinen Bruder angesehen hatte und daher törichterweise annahm, sie könnten lediglich geschwisterliche Zuneigung füreinander empfinden? Wenn sie an Lu Qingfengs jammervollen Gesichtsausdruck in ihren Todestunden dachte, spürte sie nur unerträglichen Herzschmerz.
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Selbst wenn sie wiedergeboren worden war und in die Vergangenheit gereist war, konnte sie ihren Groll gegenüber denjenigen nicht loslassen, die nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihrer Mutter und Lu Qingfengs zugrunde gerichtet hatten. In diesem Leben würde sie dafür sorgen, dass Lu Qingfeng nicht als Tyrann enden würde, der wegen ihr Verwüstungen hinterließ.
Bevor sie jedoch ihr Schicksal beeinflussen konnte, musste sie den Lauf ihres eigenen Lebens ändern. In ihrem früheren Leben hatte sie alles getan, um Mo Yuchen zu heiraten, der sie bis zu ihrem letzten Tag nur mit Verachtung bedacht hatte.
In der Vergangenheit war sie naiv gewesen und hatte geglaubt, dass sie sein Herz erobern könnte, wenn sie nur an seiner Seite bliebe, aber das war nie geschehen. Traurigerweise blieb Mo Yuchen, egal wie sehr sie ihre Gefühle zeigte, gleichgültig, als wäre er aus Stein gemacht.