Chapter 35 - Neues Jahr, neues Leben (1)

Als Su Xiaofei aufwachte, war es bereits Nachmittag. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und erblickte Lu Qingfeng, der im Sessel neben ihrem Bett saß und ein Buch auf seinem Schoß las. Eine Brille auf seiner Nase ließ ihn älter erscheinen, als er eigentlich war.

Su Xiaofei lächelte innerlich und war froh, dass er sein Versprechen gehalten hatte, bei ihr zu sein, sobald sie erwachte. In diesem Moment klopfte Yun Qingrong sanft an die Tür und bemerkte, dass ihre Tochter bereits wach war.

Ihre Mutter stellte das Tablett, das sie in Händen hielt, auf den Nachttisch und nahm neben Su Xiaofei Platz, wobei sie zärtlich ihre Stirn berührte.

"Du bist wach", stellte Yun Qingrong fest. "Wie fühlst du dich, Feifei?", fragte sie.

Als Su Xiaofei ihre Stimme hörte, legte Lu Qingfeng das Buch beiseite und wandte sich ihr zu.

"Ich fühle mich besser, Mama. Es tut mir leid, dass ich dir Sorgen gemacht habe", antwortete Su Xiaofei mit leiser Stimme. Sie bemerkte, wie trocken und gereizt ihr Hals war, und erinnerte sich, dass sie seit ihrem Aufbruch am Vortag nichts mehr gegessen hatte.

Ihr Magen knurrte und verriet allen im Raum ihren Hunger. Lu Qingfeng schmunzelte und legte das Buch neben das Tablett auf den Nachttisch, bevor er aufstand.

"Ich werde Tante Liu bitten, dir etwas zu Essen zu machen", sagte er und ließ Mutter und Tochter allein.

Eine halbe Stunde später kamen beide gemeinsam die Treppe herunter, Yun Qingrong stützte ihre Tochter. Lu Qingfeng trat vor, um Su Xiaofei seinen Arm anzubieten, den sie dankend annahm.

"Ach, Miss Feifei. Sie hätten warten sollen, wir hätten Ihnen das Essen hochgebracht. Bei Ihrer Verletzung sollten Sie sich nicht so anstrengen", bemerkte Tante Liu. Für Außenstehende klang es möglicherweise wie ein Tadel, doch Su Xiaofei wusste, dass Tante Liu sich einfach sorgte.

"Kein Problem, Tante", erwiderte sie scherzend. "Wenn ich noch eine Stunde im Bett liegen bleibe, verliere ich vielleicht noch den Verstand."

Als Su Xiaofei das leichte Essen sah, das die alte Frau eigens für sie zubereitet hatte, lächelte sie. Es war ihr kaum fassbar, dass sie einmal die herzliche Gemeinschaft, die sie mit ihren Liebsten hätte genießen können, beinahe übersehen hätte, weil sie so töricht gewesen war, sich ausschließlich auf Mo Yuchen zu konzentrieren.

Sie aß ihre Mahlzeit, während Tante Liu und ihre Mutter die Bestandsaufnahme besprachen, die Tante Liu in ihrem begehbaren Kleiderschrank im dritten Stock durchgeführt hatte."Es scheint, als sei es nicht das erste Mal, dass Chen Li irgendetwas von Feifeis Sachen genommen hat," sagte Yun Qingrong mit einer deutlichen Sorgefalte auf der Stirn. "Ich habe sie nicht schlecht behandelt. Ich habe sie sogar bei mir zu Hause aufgenommen, und so wird mir gedankt?"

"Mama, du ärgerst dich schon wieder. Es ist es nicht wert, wegen einiger undankbarer Menschen wütend zu werden und krank zu fallen. Wenn Chen Li diese Kleidung wirklich haben wollte, könnte sie sie behalten, aber ihr Fehlverhalten sollten wir den Behörden melden. Wer weiß, ob sie das in Zukunft nicht auch bei anderen tun würde? So ersparen wir anderen den Ärger, sich mit den Chens einlassen zu müssen, wenn diese erst einmal aktenkundig sind," kommentierte Su Xiaofei, zur Überraschung ihrer Adoptivmutter und Tante Liu. Nur Lu Qingfeng schien von ihren Worten ungerührt.

In diesem Augenblick wurde Su Xiaofei klar, dass sie sich vor ihrer Mutter verplappert hatte. Yun Qingrong hatte keine Ahnung, wie bösartig ihre Tochter gegenüber Feinden sein konnte, und Su Xiaofei schämte sich, dass sie ihre dunkle Seite hatte sehen lassen.

Su Xiaofei biss sich auf die Lippe und senkte beschämt den Blick. Sie verfluchte sich selbst dafür, vor ihrer Mutter so eine Szene gemacht zu haben.

Yun Qingrong hatte nie den Behauptungen anderer Glauben geschenkt, dass Su Xiaofei ein böses Herz hatte und nur wusste, wie man die Menschen um sie herum tyrannisierte, besonders Ye Mingyu. Als ihre Mutter war es nur natürlich, dass Yun Qingrong eine gewisse Voreingenommenheit für ihre Tochter hegte, etwas, das Su Xiaofei in der Vergangenheit skrupellos ausgenutzt und damit das Herz ihrer Mutter gebrochen hatte.

Zu ihrer Überraschung kam Lu Qingfeng ihr zur Verteidigung und unterstützte ihren Vorschlag bezüglich der Chen-Familie.

"Tante Qing, ich denke, Xiaofei hat recht. Wenn Sie vorhaben, Tante Chen zu entlassen, wird sie sicherlich versuchen, sich bei einer anderen Familie als Haushälterin zu bewerben. Wäre ich in der Position, eine neue Haushälterin zu suchen, würde ich wissen wollen, warum sie nach so vielen Jahren die Su-Residenz verlassen hat. Sicherlich würde niemand seine Türen für Diener öffnen wollen, die letztendlich ihre Herren bestehlen und deren Freundlichkeit ausnutzen," sagte Lu Qingfeng.

Yun Qingrong verharrte stumm. Musste sie wirklich so weit gehen, um die Verwandten ihres Mannes zu bestrafen?

Als Su Xiaofei den zwiespältigen Gesichtsausdruck ihrer Mutter sah, seufzte sie erleichtert, warf jedoch Lu Qingfeng einen misstrauischen Blick zu und fragte sich, warum er ihr dabei half, die Chen-Familie loszuwerden. Wusste er etwa etwas, das er nicht wissen sollte?

"Du musst jetzt keine voreilige Entscheidung treffen, Mama. Warum zeigst du nicht ein wenig Mitleid und siehst zu, ob sie bereit sind, ihr Verhalten zu ändern?" schlug sie vor.

Ja, Mitleid mit der Chen-Familie haben, denn in drei Tagen würde Frau Chen es sein, die Ye Xing und Ye Mingyu in ihr Haus ließ, um ihre Mutter zu verstören. Das würde der letzte Sargnagel sein und Yun Qingrong dazu bringen, sie aus dem Haushalt zu verbannen, weil sie ihre Grenzen überschritten hatten.

"Also gut. Dann machen wir es so. Da es ihr erstes Vergehen ist, gebe ich ihnen eine letzte Chance zur Besserung," stimmte Yun Qingrong zu, ohne zu wissen, dass Frau Chen sie wieder enttäuschen würde und dies der Grund sein würde, warum sie gegenüber der Chen-Familie keine Gnade zeigen würde.