"Stimmt etwas nicht, Schwester Hua?" Su Ai Yuan bemerkte, wie Nan Hua das Tuch anstarrte und es nicht einmal berührte. Sie fand das merkwürdig, denn eigentlich sollte doch nichts an dem Tuch auszusetzen sein, oder?
"Es ist zu dünn", entgegnete Nan Hua und schüttelte den Kopf. "Man kann es nicht als Augenbinde benutzen."
"Also dann…" Su Ai Yuan war irritiert und warf einen Blick auf Long Xu Nian hinter ihr, bevor sie lächelte. "Dann müssen wir eben die Augenbinde austauschen, nicht wahr? Ich werde einen Diener fragen…"
"Das ist nicht nötig. Ich werde meine Tante darum bitten."
Su Ai Yuan kam nicht dazu, etwas zu erwidern. Sie konnte nur zusehen, wie Nan Hua zu den Tischen der Erwachsenen ging und einen prüfenden Blick zurück auf Long Xu Nian warf, der nicht weit hinter ihr stand.
Long Xu Nian schnaubte verächtlich.
Man sollte meinen, die verzogene Göre würde der Falle mit dem Tuch entkommen. Es war ja nur etwas Puder, um sie zum Jucken zu bringen, doch es hätte ausgereicht, damit jemand sich selbst das Gesicht kratzt. Dadurch hätte das Mädchen keine andere Wahl, als sich in ihrem Anwesen zu verstecken.
Aber da es fehlgeschlagen war, würde Long Xu Nian sich eben etwas anderes einfallen lassen müssen, um das Mädchen in den Griff zu bekommen.
"Tante."
Nan Si Qiao hörte den zarten Ruf des Mädchens und drehte sich überrascht um, um Nan Hua zu sehen. "Was gibt es, Hua'er? Möchtest du etwas essen?"
Nan Hua schüttelte den Kopf. "Ich würde gern ein Tuch von dir ausleihen, Tante. Wir wollen ein Spiel spielen, und ich brauche es, um die Augen verbunden zu bekommen, bevor ich die anderen finde."
"Ein Spiel?" Nan Si Qiao nickte und lächelte. "Nun, dann nimm doch meinen Ersatzschal. Er ist dunkelblau und recht dick. Du wirst nichts durch ihn sehen können. Er ist sicherlich besser als die anderen Tücher."
"Danke, Tante."
"Du dummes Mädchen, warum bist du so förmlich zu mir?" Nan Si Qiao kicherte und strich Nan Hua liebevoll über den Kopf.
"Madam Feng, werden Sie es mir versagen, das junge Mädchen zu sehen?" erklang plötzlich eine herzliche Stimme von der Seite.
Nan Hua hob den Kopf und sah eine betagte Dame, die nicht weit von ihnen saß. Ihr Alter zeigte sich deutlich, ihre Haut schmiegte sich eng an die Knochen und ließ sie sehr dünn erscheinen. Doch in ihren Augen lag weiterhin ein Ausdruck von Eleganz und Stärke.
Selbst jetzt noch, als ein welker Baum, strahlten ihre Augen die Vitalität eines jungen Menschen aus.
"Hua'er, das ist die alte Madam Long," stellte Nan Si Qiao Nan Hua schnell der alten Dame vor. "Alte Madam Long, dieses kleine Mädchen ist ebenfalls eine Enkelin des alten Meisters Nan. Sie ist noch ein Kind und kennt sich nicht so gut mit den Regeln aus."
Nan Hua neigte ihren Kopf und begrüßte gehorsam: "Alte Madam Long."
Die alte Madam Long musterte Nan Hua mit ihrem Blick. Diese kleine Enkelin musste irgendwie besonders sein, um den alten Meister Nan dazu zu bringen, selbst eine Entscheidung zu treffen. Als sie Nan Hua ansah, konnte die alte Dame nur die kühle und reife Art des Mädchens feststellen - ein wenig zu reif für ihr Alter vielleicht.
Doch zu dieser Zeit mussten Mädchen, die nicht frühzeitig reif wurden, nur Leid erfahren."Komm her, Kind."
Nan Hua ging gehorsam hinüber. Sie sah die alte Madam Long mit fragenden Augen und unschuldigem Blick an. Wer sie nicht kannte, würde sie nur für ein gehorsames junges Mädchen halten.
Die alte Madam Long lächelte und rieb ihr leicht den Kopf. "Spiel nicht zu lange. Wenn du das Spiel nicht magst, kannst du einfach hier bleiben und mit mir plaudern."
Bei diesen Worten sprang Nan Si Qiao fast von ihrem Sitz auf. Die alte Madam Long war dafür bekannt, dass sie sehr launisch war. Warum bat sie Nan Hua plötzlich, stattdessen mit ihnen zu plaudern?
"Mhm, ich verstehe, alte Madam Long."
"Welche alte Madam? Nennen Sie mich Großmutter."
"Großmutter", antwortete Nan Hua sehr gehorsam und höflich.
Die alte Madam Long nickte zufrieden. Sie tätschelte ihr den Kopf. "Vergiss nicht, deinem Großvater zu sagen, dass du jetzt auch meine Enkelin bist."
Nan Hua blinzelte mit den Augen. "Aber ich bin noch nicht im heiratsfähigen Alter."
"Du bist die Verlobte meines Enkels, also bist du natürlich meine Enkelin!"
Die Logik schien nicht falsch zu sein.
Nach kurzem Nachdenken nickte Nan Hua einfach und akzeptierte es. "Großmutter, Hua'er wird zuerst spielen gehen."
"Mhm, geh."
Während die alte Madam Long Nan Hua fröhlich wegschickte, bemerkte sie, dass Nan Si Qiao sie ansah, als sähe sie einen Geist. Der Blick irritierte sie so sehr, dass sie schnippisch sagte: "Bist du unglücklich darüber, dass ich Hua'er als meine Enkelin betrachte?"
"Natürlich nicht! Oder natürlich nicht! Die alte Madam Long ist eine sehr gütige und respektable Person, deshalb ist es für Hua'er eine Ehre, Sie als ihre Großmutter bezeichnen zu dürfen", antwortete Nan Si Qiao schnell. Innerlich schrie sie geradezu auf.
Nur der Himmel wusste, dass sie eigentlich das Gegenteil von dem sagen wollte, was sie gerade gesagt hatte.
Die alte Madam Long war gütig und wohlwollend?
Pfft.
Wenn sie gütig und wohlwollend wäre, wäre jeder Mensch gütig und wohlwollend. In Wirklichkeit war sie eine sehr lästige Frau, der viele Menschen nicht einmal nahe kommen wollten.
Aber in diesem Moment hatte Nan Si Qiao keine andere Wahl, als diese alte Dame zu loben!