"Wärst du bereit, Wang Zi Mo töten zu lassen?" fragte Liu Wei unvermittelt.
Wang Chao sah ihn an, um dessen Beweggründe zu verstehen. "Nein", antwortete er knapp.
"Auch nicht, um den Rest deiner Familie zu schützen?"
"Er hat nichts getan, was seinen Tod rechtfertigen würde. Ich mag ihn vielleicht nicht, aber er ist immerhin Familie", sagte Wang Chao und schloss das Thema ab. "Hat sie etwas gesagt?"
Liu Wei lächelte. "Spielt es eine Rolle, ob sie etwas gesagt hat? Du hast deine Entscheidung getroffen und der Mann wird nicht getötet."
"Was hat sie gesagt?" fragte Wang Chao, nun neugierig auf Li Dai Lus nächsten Schachzug.
"Wenn du nicht gewillt bist, ihr zu glauben, dann macht es keinen Sinn, darüber zu sprechen", entgegnete Liu Wei, erhob sich und fügte hinzu: "Ich werde jetzt gehen. Bis morgen."
Wang Chao nickte, während er zusah, wie sich sein langjähriger Freund entfernte. Auch er musste sich etwas Zeit nehmen, um über alles nachzudenken.
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Liu Wei rief mich ein paar Tage später an und sagte mir, dass er am Nachmittag einige Personen zu Besuch mitbringen würde. Ich war etwas verärgert darüber, dass er mir nicht früher Bescheid gegeben hatte, aber ich dachte, drei Stunden Vorlauf waren immerhin besser als dreißig Minuten. Ich ließ das Tor trotzdem offen, damit sie durchkommen konnten.
Es war Mitte April und ich hatte alle meine Pflanzen eingesetzt. Die Nächte waren noch immer kalt, also deckte ich die Pflanzen einfach ab, aber die Tage waren derart warm, dass es eine Verschwendung gewesen wäre, die Sonne nicht voll auszunutzen.
Der Inhaber des Samengeschäfts hatte mir sogar noch ein paar andere Pflanzen geschenkt, die er dachte, könnten mir gefallen. So hatte ich jetzt neben meinem Gemüsegarten ein ganzes Stück Land als Obstgarten.
Ich gebe zu, dass das Kleinstadtbauernmädchen in mir bei dem Gedanken, einen eigenen Obstgarten zu haben, vor Freude schrie. Und so tanzte ich vor Glück und sang aus Leibeskräften, nachdem die Arbeiter alle möglichen Obstbäume gepflanzt hatten und gegangen waren.
Ich war nun stolzer Besitzer eines Gartens mit Kirsch-, Apfel-, Orangen-, Zitronen- und Limettenbäumen. Ich hatte darüber nachgedacht, Bananenbäume zu bekommen, allerdings schien die Stadt A nicht geeignet für den Bananenanbau. Das war in Ordnung; ich hatte eine ganze Tiefkühltruhe voller Bananen, bereit jederzeit Bananenbrot zu backen.'Bin ich ausreichend mit Erdnussbutter versorgt? Wer noch kein Erdnussbutter-Bananen-Brot probiert hat, verpasst definitiv etwas.
Während ich gedanklich noch einmal alle Dinge durchging, die ich mir für den Rest meines Lebens wünschen könnte, hörte ich, wie eine Autokolonne meine Auffahrt herunterfuhr.
Ich ging hinaus auf die Terrasse und wartete, bis jeder aus den SUVs ausgestiegen war. Ich gebe zu, es sah ein wenig aus wie beim Aussteigen aus einem Clown-Auto, aber das wollte ich einer der mächtigsten Familien in Stadt A nicht vorhalten. Wer weiß, vielleicht würde eine solche Bemerkung in Zukunft problematisch werden, sollte ich sie mit Clowns vergleichen.
Wang Chao und ein älterer Herr, bei dem ich nur an den Alten Meister denken konnte, stiegen zuerst aus, gefolgt von Liu Wei.
"Mach dich bereit", flüsterte er mir zu, als er die beiden anderen Männer in mein Haus führte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, warum er es für notwendig hielt, mich im Voraus zu warnen; am hinteren Ende des Konvois stieg Wang Zi Mo aus einem der Autos, sein Bruder folgte ihm.
Es gibt nicht viele Menschen, die ich allein an ihrem Aussehen erkennen kann, aber Wang Zi Mo ist definitiv einer von ihnen. Jetzt ging es nur noch darum, herauszufinden, wie ich ihn vor dem 1. November umbringen könnte.
Vielleicht hätte ich nett sein und ihm dieses zusätzliche Jahr gewähren sollen, vielleicht wäre er dann nicht derselbe Mensch wie in meinem vorherigen Leben. Oder vielleicht wäre er dann noch viel schlimmer… und Wang Chao und Liu Wei hatten ihm gerade eine Wegbeschreibung zu mir nach Hause gegeben.
Ohne auf die anderen zu warten, folgte ich Liu Wei schnell ins Innere. "Komm mit", zischte ich ihm zu, als wir in das Wohnzimmer traten, in dem wir vor einigen Tagen gewesen waren. Der Alte Meister zuckte zusammen, als er mich sprechen hörte, aber Wang Chao blieb ungerührt.
"Was auch immer du meinem Assistenten zu sagen hast, kannst du hier vor allen sagen", meinte Wang Chao, als der Rest seiner Gruppe den Raum betrat.
Ich sah ihn an und erstarrte. Ein Teil von mir wollte ihm den Vorteil des Zweifels geben, dass er nicht einfach jemanden in mein Haus gelassen hatte, von dem ich seinen Assistenten gebeten hatte, ihn zu töten. Der andere Teil von mir wollte, dass alle in diesem Raum brennen.
Ich war unschlüssig und überlegte, welchen Weg ich einschlagen sollte, als ich die Präsenz von jemandem hinter mir fühlte. Der vertraute Geruch verriet mir, dass es Liu Wei war, aber ich war momentan nicht in der Stimmung, ihm irgendwelchen Kreide zu geben.
"Es tut mir leid", sagte er und flüsterte mir ins Ohr, sodass niemand anderes ihn hören konnte. Die hochgezogenen Augenbrauen vieler Anwesender verrieten, dass seine Geste, selbst wenn sie nicht gehört wurde, nicht unbemerkt blieb. "Ich werde es erklären."
Ich drehte meinen Kopf, meine Lippen striffen fast seine Wange, und erwiderte die Geste. "Ihr beide habt gerade das Todesurteil für alle in diesem Raum unterschrieben, das ist euch hoffentlich klar. Und momentan hat keiner von euch die Macht, mich zu stoppen, bevor ich es tue."
"Hast du uns zum Haus von Lius Freundin geführt?" kam die wohltuend klingende Stimme eines Mannes, den ich am liebsten vergessen hätte. Bei dem Klang zuckte ich zusammen, und meine linke Hand zuckte unkontrolliert, fast bereit, die rosa Flamme in meiner Hand zu entfachen. Als könnte er spüren, was ich vorhatte, glitt Liu Weis Hand meinen Arm entlang bis zu meiner Hand und verschränkte unsere Finger miteinander. Ich wusste nicht, ob er die rosa Flamme nicht spürte oder nur eine hohe Schmerztoleranz besaß, doch er bewegte seine Hand nicht von der meinen.
Die einzige Frage, die mir in den Sinn kam, war: Wen wollte er beschützen? Mich oder die anderen?
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