Wir sind alle defekt, so dass das Licht einstrahlen kann.
-Ernest Hemingway-
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"Herr!" Madame Annes Geduld begann zu schwinden, als sie ihre freie Hand in die Hüfte stemmte. "Ich verlange, dass Sie das Mädchen sofort freilassen!"
Der Mangel an Respekt in Madame Annes Stimme lies Torak gefährlich knurren und das Unbehagen bei Raine nahm weiter zu. Sie schaute Madam Anne mit Tränen in den Augen an, unfähig sich aus Toraks eisernem Griff zu befreien.
"Halt sie fest." Torak entriss Raphael den Schirm, den er für sie hielt und reichte Raine zu ihm hinüber.
Sobald Torak sie losließ, versuchte sie zu Madame Anne zu laufen. Doch Raphael hielt sie fest an der Schulter. "Bleib bitte hier. Wir werden dir nichts antun." Er sprach leise genug, dass Raine ihn hören konnte.
Doch sie war so sehr bemüht, frei zu kommen und hatte solche Angst, dass sie sich umdrehte und in Raphaels Hand biss, die ihre Schulter festhielt.
Überrascht von ihrer Reaktion - nicht von dem harmlosen Biss - ließ Raphael ihr Schulter los. Er schaute hilflos zu Raine, die auf Madam Anne zulief.
Doch bevor das kleine Mädchen zu ihrer Retterin gelangen konnte, packte Torak sie an der Hüfte und zog sie wieder an seine Seite; dabei ignorierte er das Schreien von Madam Anne und Raines Versuch, sich zu befreien.
Als er sich umdrehte, warf der Alpha seinem Beta einen scharfen Blick zu, da dieser seiner Aufgabe nicht nachgekommen war. Raphael reagierte darauf mit einem nervösen Grinsen.
"Was wollen Sie?" Sie warf ihm vor und versuchte, ihn zu bedrohen. "Ich rufe die Wache, wenn Sie sie nicht freigeben!" forderte Madam Anne.
'Wie viele Wachen werden ihrer Meinung nach nötig sein, um den Alpha aufzuhalten?' Eine grummelige Stimme erklang in Raphaels Kopf.
Wie aus dem Nichts erschien ein großer grauer Wolf, etwa so hoch wie Raphaels Hüfte, neben ihm;
'Ich habe dir gesagt, dass du kommen sollst', antwortete er dem Wolf durch die Gedankenverbindung.
Da Wölfe nicht sprechen konnten, kommunizierten sie mithilfe einer Gedankenverbindung, die sie miteinander vernetzte, wenn sie in ihrer Wolfsform waren.
'Ich bin hier!', antwortete Calleb schelmisch und wedelte mit seinem buschigen Schwanz wie ein Welpe. 'Du hast nicht genau gesagt, dass ich als Mensch kommen sollte, oder? Es regnet und ich will nicht, dass mein Anzug im Wert von tausend Dollar nass wird.' Erwiderte er geschickt.
Für die Gestaltwandler wie sie bedeutete es, dass sie, sobald sie ihre andere Form annahmen, in einer anderen Dimension waren, die kein Mensch sehen konnte;
Der größte Vorteil für sie war, dass sie ihre Kleidung behalten konnten, wenn sie in die menschliche Form zurückkehrten, so dass sie sich nicht splitternackt oder in Boxershorts umkleiden mussten.
Raphael sagte nichts als er ihn übertrieben tretete und Calleb deftig auswich.
Beide blickten in die Richtung von Torak und der dicken Dame, die nun endlich, trotz des starken Regens, der auf sie niederprasselte, ruhig miteinander sprach.
'Ist sie das?' Calleb zeigte mit seiner Schnauze auf das Mädchen, das sich in Toraks Umarmung versteckte. 'Unsere Luna?'
'Ja. Sie ist es.'
'Im Ernst? Was ist sie? Eine Fae? Aber, eine Fae ist kein Gestaltwandler.' Murmelte er. Anders gesagt, Menschen könnten sie nicht sehen.
Raphael schaute auf den grauen Wolf hinunter. 'Sie ist natürlich ein Mensch.'
Der Wolf zog seine Mundwinkel nach oben und zeigte seine Eckzähne - Raphael interpretierte es als Grinsen. ' Sie hat mich vorhin ganz deutlich gesehen. Kein Mensch könnte mich in meiner Wolfsform sehen.'
Raphael schaute zu Raine, doch das kleine Mädchen hatte ihr Gesicht in Toraks Armen versteckt, weil sie es nicht schaffte, sich von ihm zu lösen.
Nach fünf Minuten Gespräch nickte Madam Anne schließlich zu Toraks Vorschlag und ließ ihn ins Waisenhaus hinein, während sie das Tor für ihn öffnete.
Wie auf Kommando ging Raphael zu ihnen hinüber, als eine weiße Plastiktüte seine Aufmerksamkeit erregte. Mit leicht gebückter Haltung nahm er die Plastiktüte auf und ging weiter in das Gebäude hinein, während der Wolf ihm folgte.
Das Waisenhaus war riesig und veraltet. Es wirkte, als würde das Gebäude schon seit Jahrhunderten bestehen und schon lange nicht mehr renoviert worden sein.
Madam Anne ging voraus mit Torak und Raine kuschelte sich in seinen Armen fest an ihn. Unterdessen gingen Raphael und der Wolf Calleb nebeneinander her, etwa drei Meter von ihnen entfernt.
Sie gingen ohne ein Wort den Flur entlang, bevor Madam Anne vor einer blauen Tür anhielt und sie öffnete. "Ihr beide könnt hier für heute Nacht ausruhen. Ich werde jemanden bitten, euch saubere Kleidung zu bringen."
"Ich möchte jetzt über ihre Adoption sprechen." Torak trat nach vorne, als Madam Anne ihren Satz beendet hatte. Raphael wusste sofort, wohin das Gespräch führen würde, und trat näher heran.
"Herr, wir können das morgen früh besprechen." Madam Anne runzelte leicht die Stirn.
"Ich werde nicht bis zum Morgen warten." Torak sprach mit ihr, aber seine Augen verließen das Mädchen neben ihm nicht.
"Herr-", begann sie, aber sie wurde kurz unterbrochen.
Von der Seite räusperte sich Raphael, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und stellte sich höflich vor. "Bitte gestatten Sie, dass ich mich zuerst vorstelle." Er trat näher heran, um den angewiderten Ausdruck auf Madam Annes Gesicht zu sehen. "Ich bin Raphael Lockwood, der persönliche Assistent von Torak Donovan." Raphael zeigte auf Torak neben ihm, welcher immer noch Raines Taille hielt. Sie wusste, dass es zwecklos war zu versuchen, zu fliehen, also versuchte sie es nicht noch einmal.
In der Zwischenzeit kreischte Madam Anne innerhalb weniger Sekunden auf und hielt sich mit ihrer großen Hand den Mund zu. "Sind Sie - sind Sie der Multimilliardär Mr. Donovan?" Sie keuchte und beugte sich vor, um den Mann, der mächtig vor ihr stand, genauer betrachten zu können.
Wer kennt nicht den Namen Donovan? Er war der berühmteste Junggeselle unter Geschäftsfrauen und Frauen im Allgemeinen - ein erfolgreicher Geschäftsmann, der sich nur selten in der Öffentlichkeit zeigte. Aber wenn man ihn einmal gesehen hatte, war es unmöglich, ihn zu vergessen. Sein starker Eindruck prägte seine Gestalt in jedes Gedächtnis.
Madam Anne hatte ihn wegen der Dunkelheit und des regnerischen Wetters vorher nicht bemerkt. Aber jetzt, als Raphael ihn erwähnte und sie ihn mit eigenen Augen sah, stieß sie einen erstickten Schrei aus.
Sie war eine Frau in ihren frühen Dreißigern, die noch nicht verheiratet war. Ein Blick auf den tropfnassen Torak Donovan vor ihr war natürlich ein schöner Anblick. "Ich bin Anne... Anne Julliane." stotterte sie.
Calleb kicherte in seiner Wolfsgestalt neben Raphael. 'Du hast gerade dafür gesorgt, dass die Dame fast einen Herzinfarkt bekommen hätte', scherzte er.
Raphael ignorierte ihn, während er weiter mit ihr sprach. "Guten Abend, Frau Julliane."
"Nennt mich bitte Anne." Sagte sie verlegen.
"Anne." Raphael nickte höflich. "Wir würden jetzt gerne über die Adoption sprechen. Denn morgen früh müssen wir zurück in die Stadt Redriver und wir müssen sie mitnehmen."
Torak achtete nicht auf das Gespräch und bemerkte auch nicht, wie Anne ihm zulächelte.
Er war mit dem Mädchen neben ihm beschäftigt. Raine schaute auf ihre Schuhe, die in seinem Arm zitterten, er konnte spüren, wie ihr Körper bebte. Jetzt, fragte sich Torak, hatte er ihre Stimme nicht mehr gehört, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Warum sprach sie nicht?
"Wie ist dein Name?" fragte Torak leise, aber Raine hob nicht einmal den Kopf.
Unter Ignorierung ihres Gesprächs mit Raphael war es Anne, die ihm stattdessen antwortete. "Ihr Name ist Raine."
"Raine," wiederholte Torak und mochte es, wie ihr Name auf seiner Zunge rollte. "Schöner Name." Ergänzte er.
"Wie alt bist du?" Er dachte, sie müsste sehr jung sein, mindestens ein Teenager.
"Sie ist siebzehn Jahre alt, Sir." Anne antwortete ihm wieder mit ihrer übermäßig süßen Stimme.
"Habe ich dich gefragt?" Torak hob den Kopf, um sie anzustarren. Er wollte ihre Stimme hören, aber diese Frau antwortete immer wieder auf seine Frage. Es ärgerte ihn.
"Nein, Sir - aber - sie", stotterte sie. "Aber sie will Ihre Frage nicht beantworten."
"Warum?", fragte Torak und zog die Augenbrauen zusammen.
"Sie spricht nicht." Anne sah zu Raine, die immer noch den Kopf senkte.