Nachts sank die Temperatur im Königreich Versailles, und alle blieben in ihren Zimmern und Betten. Die Menschen von hohem Stand hüllten sich in dicke quiltartige Decken, während die Menschen niedrigeren Ranges, wie die Diener, nur dünne Bettlaken um ihre Körper wickelten. Es war jedoch nicht genug, um ihnen einen bequemen Schlaf zu ermöglichen.
In den Dienerquartieren schlief Anastasia früher als gewöhnlich ein. Sie war erschöpft und hatte in dieser Nacht keine Lust, ihr Zeichenkohlestück zu berühren. Tief im Schlaf, im stillen Dienerquartier, träumte Anastasia von dem, wonach ihr Herz verlangte.
Der Ruf ihres Vaters hallte in ihrem Traum wider: "Anna?" "Anna?"
"Ich bin im Hinterhof, Papa!" antwortete Anastasia. Sie hing Wäsche auf die Leine, die sie am Fluss gewaschen hatte.
Während Anastasia ihre Kleidung auswring und aufhängte, trat ihr Vater durch die Hintertür aus dem Haus. "Da bist du!" rief er aus. "Ich habe diese kleinen violetten Pflaumen mitgebracht, die dir so gefallen." Sie sahen genauso aus, wie damals, als sie und ihre Schwester noch kleine Mädchen waren.
Ihre Mutter, die ihrem Vater folgte, mahnte sie: "Anna, es ist Zeit reinzukommen. Maria braucht deine Hilfe. Wir dürfen nicht zu spät zur Feier kommen."
"Natürlich, Mama", antwortete Anastasia. Sie goss das Wasser aus dem Eimer auf den Boden und trat in ihr gemütliches, warmes Zuhause ein. Sie wischte sich die Hände ab und klopfte dann an die Tür zum Zimmer ihrer Schwester. Als sie die Türklinke drehte fand ihre Blick auf ihre Schwester, die ein einfaches, weißes Kleid trug. "Du siehst wunderschön aus, Maria! Ich freue mich so sehr für dich, weil du den Mann heiratest, den du liebst", sagte sie und umarmte ihre Schwester.
Marianne hatte feuchte Augen und lächelte: "Ich bin auch glücklich, Anna. Ich kann kaum glauben, dass der Tag endlich gekommen ist." Sie zog Anastasia vor den langen Spiegel und sagte: "Aber jetzt ist es auch an der Zeit für dich. Schau." Ihre Schwester drängte sie, sich im Spiegel zu betrachten.
Als Anastasia sich umdrehte und in den Spiegel blickte, bemerkte sie, dass Marianne in der Spiegelreflexion fehlte und auch nicht mehr neben ihr stand. Sie war allein in dem plötzlich dunklen Raum. Der Spiegel zerbrach in viele Stücke und sie hob ihre Hand, um ihr Gesicht zu schützen.
"Anastasia", hörte sie jemanden ihren Namen in der Ferne flüstern. Es klang wie ein Echo.
"Es ist Zeit für dich, nach Hause zu kommen", sagte die Stimme zu ihr.
"Papa?", rief Anastasia nach ihrem Vater, erhielt jedoch keine Antwort. Die Dunkelheit, die ihre Sicht trübte, begann sich zu klären, und sie befand sich auf einmal in einem langen, einsamen Korridor. Ihre Lippen bewegten sich erneut: "Papa?"
Anastasia schritt mit nackten Füßen über den kalten Marmorboden. Ihre Aufmerksamkeit wurde von einer nahen Fackel an der Wand angezogen, die staubig und kalt wirkte, als ob sie seit Jahren nicht mehr angezündet worden war. Schon bald stellte sie fest, dass dieser Ort dem Schattenhaushof ähnelte.
Als ihre Hand im Vorbeigehen die Wand streifte, zuckte sie vor Schmerz zusammen. Dieser Schmerz, er fühlte sich real an. Sie träumte nicht mehr.
"Nein, es kann nicht real sein", murmelte Anastasia. Aber dann erinnerte sie sich an das, was Marianne zu ihr gesagt hatte:
'Hier ist niemand. Du kannst singen, wenn wir alleine sind, und niemand in der Nähe ist. Ich habe gehört, dass der Westflügel des Palastes seit Jahren nicht mehr genutzt wird.'
Der Westflügel des Palastes lag im inneren Herzen des Palastes, weshalb sie nichts davon mitbekommen hatte.
"Ich muss zurück in mein Zimmer, bevor ich noch in größere Schwierigkeiten gerate", sagte Anastasia zu sich selbst, als ihr klar wurde, dass sie nicht mehr träumte. Sie konnte nicht glauben, dass sie schlafgewandelt war und somit an diesen Ort gelangt war.
Als sie sichergestellt hatte, dass der Gang vor ihr frei war, eilte Anastasia weiter. Doch kurz bevor sie den Korridor verließ, fiel ihr Blick auf das Zentrum der vier Korridoren, wo ein vertrockneter Garten lag. Inmitten des Gartens stand eine einzige, vertrocknete Rose, umgeben von schwarzen Dornen.
Anastasia hatte noch nie etwas Derartiges gesehen oder davon gehört. Sie fühlte sich von der Rose angezogen und trat näher. Sie starrte auf die Dornen, die die vertrocknete Rose in einem perfekten Kreis umgaben, ohne sie zu berühren.
"Eine merkwürdige Sache", murmelte sie und streckte ihre Hand aus, um die Rose zu berühren.
Gleichzeitig hörte sie Stimmen. Als sie sich in deren Richtung wandte, streifte einer ihrer Finger einen Dorn, was bewirkte, dass ihre Fingerkuppe blutete. Der rote Blutstropfen fiel auf den Boden unter den Dornen. Sie hörte eine Frauenstimme:
"Ich brauche nicht ständig jemanden, der hier sauber macht, Aziel."
Dann hörte Anastasia eine Männerstimme: "Ich bitte um Verzeihung, Majestät. Ich dachte, es wäre besser, den Boden reinigen zu lassen, wenn Sie hierher kommen würden."
"Dies ist kein Ort, an dem man Tee trinkt. Das Letzte, was ich brauche, ist jemand, der hereinkommt und stört, was intakt bleiben sollte."
Anastasia hielt schnell ihr Nachthemd hoch und stieg auf das Podest des Korridors. Ohne zu wissen, wo sie sonst noch hätte sich verstecken können, stellte sie sich schnell hinter die nächstgelegene Säule.
Die Stimmen wurden lauter und zwei Personen betraten den Korridor, der dem gegenüberlag, in dem Anastasia sich versteckte. Es waren die Mutterkönigin und ihr vertrauenswürdiger Minister, der zwei Schritte hinter ihr ging.
Es gibt nur drei Diener, die hierher kommen, Milady", informierte der Minister namens Aziel.
Die Mutterkönigin fixierte den vertrockneten Rosenstrauch mit ihrem Blick. Er befand sich im selben Zustand, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte. Sie sagte: "Ich nehme an, es kann nicht so schlimm sein, wenn nur drei Diener hierher kommen."
"Ich habe den Dienern strenge Anweisungen gegeben. Sie dürfen nicht in die Nähe der Pflanzen kommen oder etwas anfassen, außer den Boden", versicherte Aziel der Mutterkönigin und bemerkte ihren finsteren Blick. "Die Schwarzdornrose ist sicher, meine Königin."
"Fürs Erste... bis sie endgültig verwelkt ist", kommentierte die Mutterkönigin und ihre Lippen bildeten eine dünne Linie. "Es sind hundertsiebenundachtzig Jahre vergangen, seit der Fluch über Versailles fiel und diesen Ort in eine Wüste verwandelte. Wussten Sie, dass der Familienname Schwarzdorn ursprünglich von dieser Pflanze stammt, die einst im Königreich weit verbreitet war?"
"So haben Sie es mir erzählt, Milady", antwortete der Minister.
"Die Schwarzdornrosen wurden einst in geringen Mengen als Elixier verwendet. Nur wenige Mitglieder der königlichen Familie wussten die genaue Menge, die eingenommen werden sollte. Denn wenn mehr als die benötigte Menge eingenommen wurde, verwandelte es sich in ein Gift. Dies wurde jedoch nicht an andere weitergegeben. Viele ehrgeizige Männer und Frauen wollten länger Leben und so schluckten sie es einfach herunter", sagte die Mutterkönigin und kicherte leise über die Gier der Menschen. Dann fuhr sie fort: "Dies ist die letzte, und obwohl sie tot ist, hat die Familie sie jahrelang als Schatz bewahrt. Deshalb möchte ich nicht, dass jemand versucht, sich ihr zu nähern."
Der Minister verneigte sich leise, um dem Befehl der Mutterkönigin nachzukommen.
Anastasia, die sich hinter der Säule versteckte, lauschte leise der Unterhaltung. Sie warf einen vorsichtigen Blick auf die verwelkte schwarze Rose. Sie hatte ihre Geschichte noch nie gehört. Die Tatsache, dass das Königreich verflucht war, ließ sie sich fragen, was in der Vergangenheit passiert sein mochte, dass so etwas geschehen konnte.
Während die Mutterkönigin und der Minister weiter über Hofangelegenheiten sprachen, fühlte Anastasia ein Kitzeln in der Nase. Sie rieb sich schnell die Nase, um nicht entdeckt zu werden, und rümpfte sie mehrmals. Sie betete zu Gott, dass sie heute von weiteren Schwierigkeiten verschont bleiben möge!